Klassik (1786-1832, beendet durch Tod Goehtes)
bzw.
Weimarer Klassik (1786-1805, bedingt durch Schillers Tod)
Johann Wolfgang von Goethe: Nähe des Geliebten
Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer
Vom Meer erstrahlt;
Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer
In Quellen malt.
Ich sehe dein, wenn auf dem fernen Wege
Der Staub sich hebt;
In tiefer Nacht, wenn auf dem schmalen Stege
Der Wandrer bebt.
Ich höre dich, wenn dort mit dumpfen Rauschen
Die Welle steigt;
Im stillen Haine geh ich oft zu lauschen,
Wenn alles schweigt.
Ich bin bei dir, du seist auch noch so ferne,
Du bist mir nah!
Die Sonne sinkt, blad leuchten mir die Sterne.
O wärst du da!
Thema des Gedichts:
Sehnsuch einer Person zu einer anderen Person (Gerüchten zufolge ist das Gedicht als Freundschaftsgedicht an Schiller gerichtet)
Inhalt der einzelnen Strophen:
Alle Strophen verdeutlichen die Sehnsucht und Gedanken des lyrischen Ichs, welches sich in jeder Lebenssituation dem Geliebten sehr nahe fühlt.
1: Ununterbrochene Gedanken an den Geliebten bei Tag und bei Nacht
2 und 3: das starke Empfinden der Liebe erregt die Phantasie und täuscht den Verstand:
das lyrische Ich glaubt den Geliebten zu sehen und zu hören
4: Bestätigung der Nähe zum Geliebten, trotz räumlicher Entfernung
-> inniger Wunsch nach der tatsächlichen Anwesenheit des Geliebten
Äußere Form:
a) Reimschema: Kreuzreim
b) Metrum: Jambus (durchgehend)
c) Kadenzen: Wechsel von männlichen und weiblichen Kadenzen
Sprache/ Stil:
a) Wortwahl:
* viele Sinneseindrücke: "denken" (V. 1,3), "sehen" (V.5), "hören" (V.9), "sein" (vgl. V.13)
-> illusionäre Vorstellung zur Realität
* Konjuktiv: "seist" (V.13), "wärst" (V.16) -> Realität gerät in eine Art Wunschform, die die
Nähe des Geliebten beschwört
b) Satzbau:
* hypotaktisch mit vielen Enjambements
* Wechsel aus Lang- (11 Silben) und Kurzzeilen (4 Silben)
Epochentypische Merkmale:
a) formal: geschlossene, strenge Form: regelmäßiger Satzbau, regelmäßiges Versmaß (Abkehr von der Formfreiheit des Sturm und Drang)
b) inhaltlich/ thematisch:
* Natursymbolik
* Liebe und Harmonie
Weitere (hier nicht vorhandene) Epochenmerkmale:
* Streben nach Humanität und Sittlichkeit (Toleranz, Wahrhaftigkeit)
* Kunst- und Schönheitsideal orientiert an der Antike: "edle Einfalt und stille Größe"
* Vorstellung der Klarheit und Reinheit: "schöne Seele"
* Kosmische Ordnung als Notwendigkeit
* Bevorzugte Formen der Lyrik: Ode, Hymne, Ballade, "Gedankenlyrik"
Weiter Autoren:
Friedrich Schiller, Christoph Martin Wieland, Johann Friedrich Herder
Zwischen Klassik und Romantik: Jean Paul, Friedrich Hölderlin, Heinrich von Kleist
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